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[mL] Wenn Bahnfahren wie Fliegen wäre - zum Glück nicht! (Antwort)

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hier habe ich einen provokanten Artikel aus einer anderen Sichtweise gelesen ("Böse Bahn!" und so).
Er enthält auch einige Spitzen...

Jesses, so eine gequirlte Scheiße (der verlinkte Beitrag, nicht das, was Du geschrieben hast) am Montagmorgen. Da ist die Woche ja direkt gelaufen. *kopf schüttel*

Ich möchte mal auf verschiedene Punkte eingehen.

Eigentlich ist dieses Geschreibsel es gar nicht wert, daß man drauf eingeht, aber nur zu.

geringe Auslastung bei der Bahn:
Meiner Ansicht nach wäre es wesentlich leichter, die Auslastung bei der Bahn zumindest im Fernverkehr signifikant zu erhöhen, wenn dort generell Reservierungspflicht bestünde. Damit wäre die Auslastung wesentlich besser planbar (s. SNCF, dort wird es ja so gehandhabt).

Vor allem gibt es einen signifikanten Unterschied zwischen Bahn- und Flugverkehr. Während es im Fernverkehr der Bahn bis auf wenige Ausnahmen Taktverkehr von morgens bis abends gibt, ist ein Taktverkehr in der Fliegerei quasi unbekannt. Es gibt über gewisse zeitliche Abschnitte zwar ca. einen Zweistundentakt zwischen Frankfurt und Hamburg, aber da wird nur dann geflogen, wenn die Nachfrage auch da ist. Es gibt sogar Fluggesellschaften, die dafür bekannt sind, daß bei gering ausgelasteten Flügen mal plötzlich "der Flieger kaputt" ist und der Flug gestrichen wird, die Leute dürfen dann mit alternativen Verbindungen klar kommen. Ich will nicht sagen, daß es keine Ausfälle im Bahnverkehr gibt - aber spontane Streichungen aufgrund geringer Nachfrage (abgesehen davon, daß Züge nach dem Fahrplanwechsel nicht mehr verkehren) ist mir da nicht bekannt.

Ob das in Deutschland mit seiner dezentralen Siedlungsstruktur und seinem vertakteten Bahnverkehr sinnvoll wäre, ist natürlich eine ganz andere Frage.

Nope. Der größte Konkurrent für den Bahnverkehr in Deutschland ist nicht das Flugzeug sondern das Auto. Und das Auto ist nun mal verdammt flexibel, und da darf sich die Bahn (ich meine das Verkehrsmittel an sich, nicht ein bestimmtes EVU) keinen zu großen Nachteil rausnehmen.

Aber solange die Bahn nicht wissen kann, mit welcher Auslastung ein Zug einen Bahnhof verlässt, kann man ihr auch keine geringe Auslastung vorwerfen.

Zumal kein anderes Verkehrsmittel so flexibel ist, was kurzfristige Überlastungen angeht.

Auto: Maximal so viele Fahrgäste wie Sitzplätze vorhanden, meistens geht aus Platzgründen nicht mehr, wenn doch, gibt's Mecker mit der Rennleitung.
Reisebus: Maximal so viele Fahrgäste wie Sitzplätze vorhanden, theoretisch Platz für stehende Fahrgäste, gibt aber auch Mecker mit der Rennleitung.
Flugzeug: Fragt Michael O'Leary, auch hier nur so viele Fluggäste wie Sitzplätze vorhanden, zudem strikt vorgegebene Maximal-Passagierzahlen für jeden Flugzeugtyp. (Ich habe nicht erst einmal erlebt, daß die Flüge überbucht waren und man händeringend nach Freiwilligen gesucht hat, die einen späteren Flug nehmen)
Bahn: So lange Platz ist, wird eingestiegen, wenn die Nachfrage es erfordert. Irgendwo ist zwar einfach aufgrund der maximal möglichen Packungsdichte Ende, aber dann hat man doch deutlich mehr Fahrgäste drin als Sitze.

Sitzabstand/Effizienz:
Der Sitzabstand bzw. die Bequemlichkeit an Bord ist für mich das entscheidende Komfort-Merkmal bei der Bahn. (Ich bin gelegentlich Wochenend-Pendler auf der Strecke München - Berlin. Da ist der Fernbus kaum langsamer - ok, Fr & So vllt schon, hab ich noch nicht ausprobiert -, das Flugzeug trotz An- und Abreise zu den Flughäfen bis zu zwei Stunden pro Richtung schneller.)

Oh ja, der Komfortvorteil ist schon immens. Zumindest wenn man einen Sitzplatz hat, aber mit rechtzeitiger Buchung und ggfs. Bezahlung einer Reservierung hat man da ja doch sehr gute Chancen. Das Flugzeug ist für mich nur als "notwendiges Übel" bei Verbindungen, die mit der Bahn einfach unerträglich lange dauern oder aufgrund größerer Wassermengen dazwischen nicht machbar sind.

Wenn die Bahn Sitzabstände wie im Flugzeug einführen würde, denke ich, würde der Großteil der Bahn-Kunden sofort abwandern. Das Flugzeug bietet erheblich schnellere Reisezeiten, der Fernbus erheblich günstigere Preise - die Bahn kann aktuell (nicht nur, aber v. a.) mit Komfort dagegenhalten.

Abgesehen von denen, die flexibel sein müssen, ja.

Wenn die Bahn Sitzabstände wie im Flugzeug einführen würde, würde das Flugzeug damit wahrscheinlich sogar zum bequemeren der beiden Verkehrsmittel aufsteigen: Während ich (1,90 m lang) dann im ICE gute sechs Stunden eingezwängt wäre, wären es im Flieger nur ca. 1 h, 15 min - der Rest geht ja drauf für Anfahrt zum Flughafen/Sicherheitskontrolle/Warten auf den Abflug bzw. aufs Gepäck (zwar nicht schön, aber besser als eingezwängt im Flugzeug Sitzen).

Oder, wer kann, setzt sich einfach ins Auto.

Energieverbrauch:
Auch dem Vergleich zum Energieverbrauch (separater Link) kann ich nicht in allen Punkten zustimmen. Wirklich relevant wird es ja eigentlich eh erst im letzten Absatz ("ICE3 vs. Flugzeug: ein ehrlicher Energievergleich").
Für den ICE3 wird eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 160 km/h angenommen. Ich führe seit Dezember 2014 eine sehr akribische Liste über meine Bahnfahrten. Für die seitdem zurückgelegten ~ 23.000 km in Deutschland komme ich auf eine wesentlich niedrigere Durchschnittsgeschwindigkeit von 114 km/h. Gut, war wenig ICE3 dabei, aber insgesamt eine relativ ausgewogene Mischung.

Das rechnet sich eh jeder so wie er es braucht. die 3 Liter pro Passagier pro 100 km eines Airbus A380 gehen auch nur auf, wenn man den Vogel mit maximal zulässiger Passagierzahl fliegen läßt. Macht aber keiner, weil man lieber überbordenden Luxus für den Geldadel einbaut.

Als Nebenzeiten (An- und Abreise zum Bhf. bzw. Flughafen) werden 60 Minuten für die Bahn und nur 100 Minuten für das Flugzeug angenommen. Kann ich mir nicht vorstellen. Deutschland hat zwar viele Flughäfen, aber immer noch wesentlich mehr Fernbahnhöfe. Bei der Bahn gibt es keine Sicherheitskontrolle. Die Differenz müsste viel größer sein zugunsten der Bahn.

Ich habe es schon geschafft, in Frankfurt am Hbf eine Minute vor planmäßiger Abfahrtszeit eines IC (damals war ich mit Semesterticket + Zuschlag unterwegs, von daher ohne Zugbindung) mit der U-Bahn anzukommen und den pünktlich abfahrenden Zug noch zu erwischen. Mehr als 10 Minuten braucht man auch im absoluten worst case hier nicht. 10 Minuten schafft man in Frankfurt am Flughafen alleine wegen der langen Wege nicht, auch wenn ich bei der letzten Sicherheitskontrolle keine Wartezeit hatte (unter der Woche morgens früh für einen Transatlantikflug) habe ich im Bereich A (Lufthansa-Schengen) schon zwei Stunden angestanden. Hat man jetzt noch Gepäck kommt je nach Flughafen (Rekord: Düsseldorf mit 56 Minuten) auch noch Wartezeit dazu.

Der Zuschlagfaktor für den Betrieb der Infrastruktur wird als Zuschlagfaktor von 1,15 bei der Bahn bzw. 1,06 beim Flugverkehr angegeben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Betrieb des Flughafens München (gehört zu den zehn größten Flughäfen in Europa) weniger Aufwand bereitet als der Betrieb der NIM mit s. i. w. zweieinhalb Zugpaaren pro Stunde. Ich würde ja noch mitgehen, wenn die Zahlen unter der Annahme getroffen worden wären, dass es in Deutschland weniger Flughäfen gibt - aber das Thema hatten wir ja eben.

Die richtig großen Flughäfen dürften halbwegs rentabel laufen. Aber schau Dir mal so Milliardengräber an wie "Frankfurt"-Hahn, Kasse-Calden oder ein gewisser großer Flughafen bei Berlin, der irgendwie nicht so ganz funktioniert...

Profitabilität/Subventionierung:
Die Haare stellt es mir jedoch gleich beim ersten Link zu Berge: "Die Lebenslüge von der profitablen Deutschen Bahn".
Natürlich ist die Deutsche Bahn nicht profitabel. (Die meisten kleinen Flughäfen bekanntlich auch nicht :p). Muss sie als Teil der allgemeinen Infrastruktur auch gar nicht sein, analog zu Autobahnen.

*hust* Besteuerung von Kerosin *hust* Oder eben NICHTbesteuerung. Aber das ist ja keine Subvention...

Sicher dürfen die Airliner meckern, dass die Bahn subventioniert wird und ihre Branche nicht. Wenn man sich die Besiedlungsstruktur von Deutschland ansieht, erscheint das aber auch als sehr sinnvoll. In Norwegen oder Kanada mag das sicher anders sein, aber in Deutschland hat das aus meiner Sicht alles seine Richtigkeit.

Nein, dürfen sie nicht. Sie zahlen auf ihren Kraftstoff keine Steuern. Während die Energie im Bahnverkehr, egal ob elektrisch oder Diesel (oder Kohle für Dampf-Sonderfahrten ;-) ) zu versteuern ist. Was, wenn nicht Subvention, ist dann eine Steuerbefreiung?

Nur eine kurze Überlegung, bevor ich mich noch mehr drüber aufrege: Wenn die Deutsche Bahn profitabel wäre, müssten die Bürger weniger Steuern zahlen, gleichzeitig müssten die Ticketpreise steigen. Da die Steigerung der Ticketpreise aber nicht einkommensbasiert geschehen kann, sondern in gleichem Maße für alle Nutzer, würden all diejenigen, die weniger als das deutsche Durchschnittseinkommen verdienen, relativ zu ihrem Einkommen mehr zahlen als jetzt. Damit würde Bahnfahren für mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung teurer werden.

Jup.

Aktuell finanzieren die "Reichen" den Staat (Sozialsystem, Infrastruktur wie Eisenbahn oder Autobahnen uvm.) zu einem höheren Anteil als die nicht ganz so Reichen. Und das finde ich auch gut so!

Auch wenn ich (wenn auch nicht besonders weit) über dem Durchschnittseinkommen liege, finde ich das auch gut so. Ich bin vielleicht mit der Verteilung des Geldes nicht unbedingt einverstanden, aber das Solidarprinzip im Allgemeinen sehe ich durchaus positiv.

Hoffe, ich habe eine interessante Diskussionsgrundlage geliefert.
Jetzt brauch ich erstmal 'n Keks...

Gibste mr einen ab? ;-)

P. S.: Weiß jemand, ob es überhaupt irgendwo auf der Welt größere Bahnunternehmen mit Personenverkehr gibt, bei alles auf Effizienz und Profitabilität ausgerechnet sein muss, weil sie nicht subventioniert werden? Wie schaut es bei Amtrak aus?

Da kann ich Dir leider nicht helfen...

Von dem verlinkten Geschreibsel immer noch erschütterte Grüße,
der Colaholiker


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